Mittendrin.

My mind is made up. Ich werde ein Statement verfassen und es wird ein längerer Text als dir und mir lieb ist. Wenn du aber zu den Menschen zählst, die einen längeren Text von Anfang bis Ende lesen und wenn du dabei dein Gehirn einschaltest, gehörst du derzeit zur Minderheit. Gratuliere. Bitte hör mir zu:

Bin Frau, Europäerin, Musikerin, Hedonistin, Demokratin, liebe die Vielfalt, das freie Leben in Europa, die kulturelle Vielfalt, meine Bildung, Bücher, Worte, kreative Taten und herzliche Gesten. Ich war noch nie, werde nie und kann gar nicht andere Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion, Geschlechtszugehörigkeit, Sprache, Herkunft, Altersgruppe, Hobbies, Süchte oder ihrer Einstellung hassen. Das einzige Merkmal, das ich schwer an anderen Menschen aushalte ist die freiwillige Ignoranz.

Zwischenmenschlich gesund.

Derzeit gibt es zu viel davon. Ideologien werden durch die Medien gepeitscht, Parolen ausgegeben, Gruppen instrumentalisiert. Es ist schwer herauszufinden, was eigentlich wirklich los ist. Ich fühle mich oft verloren. Mein Anker ist die Musik. Liebe Menschen, die mich umarmen und mir freundlich gesinnt sind.

Ich bin überzeugte Demokratin. Nur in einem Land in dem die Meinungsfreiheit, die Bewegungsfreiheit, die freie Wahl des Wohnorts, das Frauenwahlrecht, gelten, mein Recht Autos und Öffis zu benutzen, mein Recht Hosen zu tragen, mein Haar zu rasieren und eine E-Gitarre zu spielen, ein Land in dem ich studieren und arbeiten darf, aber vor allem: in dem ich das Recht habe, allein und ohne Vormund zu leben, selbst zu denken und darüber hinaus kulturelle Veranstaltungen besuchen und organsisieren zu dürfen, in solch einem Land kann ich meinen Lebensentwurf genießen.

Ich bin überzeugt, dass eine gute Regierung richtig handelt, wenn sie auf eine Bedrohung reagiert und die Menschen im Land versucht zu schützen. Wenn die Bedrohung dann vorbei ist, kann man sich daran freuen und es kann alles seinen Gang gehen.

Ich verlor mein Vertrauen stückweise an drei Punkten:
Zuerst wurde im Zuge der Corona-Maßnahmen (ja, da ist es, das böse Wort) die Versammlungsfreiheit ausgesetzt. Ich dachte: Warum passiert das? Warum wird uns das Recht zu demonstrieren genommen? Was ist wenn jetzt Dinge beschlossen werden, die ich nicht gut finde? Wie darf ich mich wehren? Hm, ich wurde misstrauisch.

Dann wurde eine Kritikerin der Maßnahmen, Beate Bahner, in die Psychiatrie gesteckt, weil sie zur Demonstration aufgerufen hatte. Es wird mir ein Leben lang in Erinnerung bleiben, dass der Aufschrei darüber ausblieb. Dass Frauen, die sich mit der feministischen Bewegung auseinandergesetzt haben, nicht entsetzt darüber mit mir diskutierten. Dass Frauen, die wissen, dass Sufragetten und Frauenrechtler*innen, nebenbei: alle Oppositionelle, schon seit vielen hundert Jahren als “verrückt”, “verwirrt”, “nicht zurechnungsfähig” eingestuft und im schlimmsten Fall in die Geschlossene verfrachtet werden. Meine Reaktion: Ein Nervenzusammenbruch mit anschließender depressiver Phase. Ein Land, von dem ich glaubte, in meiner Meinungsfreiheit sicher zu sein, offen sprechen zu können, sperrt Menschen weg, weil sie zu einer Demonstration aufrufen? Ich bekam richtig Angst.

Zwischenmenschlich ungesund: Angst.

Und nachdem ich mich wieder gefangen habe, konnte ich lesen, recherchieren, denken, diskutieren, mich vernetzen. Meine Zweifel häuften sich. Was geschieht hier gerade? Worum geht es eigentlich? Die Übersterblichkeit bleibt aus, wir haben niedrige Zahlen in Berlin, ja in ganz Deutschland. Warum ist die Diskussion emotional, moralisierend, ja an manchen Orten hetzerisch? Kritiker*innen werden wie Hysteriker, Verwirrte, nicht Zurechnungsfähige in den Medien abgeschlachtet. Darunter langjährige Expert*innen ihres Gebietes. Manche Disziplinen fehlen in der öffentlichen Meinung gänzlich. Frauen, Expertinnen, fehlen völlig. Ich machte mir Sorgen um die Demokratie. Nichts ist mir wichtiger, als in einem freien Land leben zu dürfen. Ich wollte demonstrieren gehen. Ich ging zum Rosa-Luxemburg-Platz. Es ging um das Grundgesetz, darum, daran zu erinnern, dass es noch andere Rechte als das Recht auf Unversehrtheit gibt, über die wir reden müssen.

Noch nie in meinem Leben habe ich eine Fahne geschwungen. Ich singe keine Hymnen, noch nichtmal Arbeiterlieder. Ich akzeptiere andere Lebensstile – etwa die bürgerliche Kleinfamilie, das schwule DINK-Paar, den gealterten Bachelor, die polyamoröse Künstlerinnen-WG. Ist mir alles recht, hilft uns, im Kopf offen zu bleiben. Ich gehe auf die Straße, weil die Verschiedenheit nur in Freiheit möglich ist. Hass ist keine Meinung.
Die Verunglimpfung der Demonstrant*innen ist Hass.

Noch nie in meinem Leben habe ich eine Fahne geschwungen. Ich singe keine Hymnen, noch nichtmal Arbeiterlieder. Ich gehe auf die Straße, weil die Verschiedenheit nur in Freiheit möglich ist. Hass ist keine Meinung.

Egoa Selbstistky

Die vermeintliche “Linke” kämpft den falschen Kampf. Die Opposition lässt sich spalten und hält sich am falschen Problem auf, bis es zu spät ist. Wir alle wollen eine freie, demokratische Gesellschaft erhalten. Ich will mir aussuchen, ob ich geimpft werde oder nicht. Ich will mir allein aufgrund meiner finanziellen Situation aussuchen dürfen, ob ich ins Konzert, in den Club, zum Festival fahre und nicht, weil mein Immunitätsausweis stimmt. Dafür gehe ich auf die Straße.

Hypnoji

Es ist schlimm, wenn man erkennen muss, dass Medien, denen man vertraute, lügen. Dass behauptet wird, man sei Antisemitin, Nazi oder Identitäre, weil man auf der Straße seine Rechte zurückhaben will. Aber niemand in diesem Land hat eine Ausrede, nicht zu wissen, nichts zu hören, sich nicht informieren zu können. In den Dreißigern gab es die Wochenschau (Propaganda) und die Zeitung (Propaganda). Heute gibt es im Internet eine Vielzahl von Quellen, die man heranziehen kann. Und es gibt immer mehr als eine Seite.

Bewegungen, die heute irgendwie akzeptiert sind, die verunglimpft, beschimpft, per Propaganda niedergemacht, gespalten wurden, gegen die gehetzt wurde und wird und die man einsperrt, mundtot macht, diffamiert oder sogar verschwinden lässt:

  • Frauenbewegung: Frauen wurden als Un-Frauen, Hexen, Verräterinnen am eigenen Geschlecht, Huren und schlimmeres betitelt. Sufragetten wurden weggesperrt und zwangsernährt. Die Propaganda lautete: Wer sich dieser Bewegung anschließt, ist keine richtige Frau. Frauen des Bürgertums und der Arbeiterklasse wurden gespalten, obwohl sie ähnliche Ziele hatten. Das Frauenwahlrecht wurde uns nicht geschenkt.
  • Civil Rights Movement: Ich bin keine Expertin für die Bürgerrechtsbewegung. Aber noch immer, auch nach vielen Filmen und Bildern, weine ich darüber, wie furchtbar der Rassismus war und ist, bis heute unzählige Opfer fordert. Wer sich auflehnt wird dafür verfolgt, umgebracht, verunglimpft.
  • Widerstand im NS-Regime: Denken wir einmal nicht an das etablierte Regime, das seit 1933 die Welt terrorisierte. Denken wir an die kleine Partei, die von Anfang an gegen Andersdenkende hetzte.
  • Politische Opposition McCarthy-Ära in den USA: Kommunisten. Alles Kommunisten. Und sie gefährden die Sicherheit des Landes, sie vergewaltigen die Frauen und fressen eure Kinder. Sie hypnotisieren dich und du bist Kommunist bevor du es merkst! Jeder, der sich kritisch zu äußern wagte, wurde “Kommunist” genannt, privat und beruflich geächtet und verfolgt. Desinformation, Angst und Paranoia wurden gezielt eingesetzt um politischen Zwecken zu dienen.
  • Politischer Widerstand in der DDR: diese mutigen Menschen wurden alles mögliche genannt um die Angst vor dieser “Bedrohung” zu schüren und die Büger*innen zu spalten und zu manipulieren. Propaganda, Fehlinformation, Angst und Verwirrung standen auf der Tagesordnung um die Macht der Wenigen zu erhalten.
  • Datenschützer*innen: Werden noch heute hier und da “paranoide Verschwörungstheoretiker*innen” genannt. Dabei weiß man längst, wie wichtig, und auch erfolgreich das ständige Mahnen und informieren, demonstrieren und aufklären war und ist. Die DSGVO war kein Gnadenakt sondern Erfolg eines langen Kampfes.
  • Flüchtlingshelfer*innen, Menschenrechtler*innen: heißen im Jargon oft “Gutmensch” (warum das ein Schimpfwort ist verstehen wohl nur die Populisten). Es ist inzwischen salonfähig, Flüchtlinge gut zu finden, ihnen zu helfen, sie “willkommen” zu heißen. Das war nicht immer so. Im Irak-Krieg ging es um den Frieden (“Pace”). Die Flüchtlinge sollten schön woanders hin.
  • Tierrechtler*innen: ebenso “Gutmenschen” oder auch “tree-hugger” (Baum-Umarmer). Menschen also, die sich damit beschäftigen, die Welt nicht nur für den Menschen sondern auch für andere Spezies lebenswert zu machen.
  • Klimaschützer*innen: Noch vor zehn Jahren erinnere ich mich an Diskussionen, in denen Menschen als “paranoid” bezeichnet wurden, wenn sie auf die drohende Klimaerwärmung hinwiesen. Sie waren Spinner, die einen heißen Sommer gleich als Katastrophe interpretierten.
  • Umweltschützer*innen im Allgemeinen: Menschen, die sich an Bäume ketten, heißen manchmal “Anarchisten” oder “Umweltextremisten”. Insgesamt sind sie der Presse je nach Berichtserstattungs-Dichte ein liebes, exzentrisches Phänomen oder lästige oppositionelle Nische. Spinner*innen eben.
  • Atomkraftgegner*innen sind eine Opposition zwischen Umwelt- und Menschenschützern. Etwas, vor dem wir zu Recht Angst haben sollten, die reale Bedrohung der atomaren Verseuchung nimmt derzeit überhaupt keinen medialen Raum mehr ein.
  • Reformpägadog*innen: Wenn Menschen heute deklarieren, sie glauben nicht mehr an unser Schulsystem ist das bei der Dinnerparty völlig en vogue. Hätten sie es vor zwanzig Jahren gesagt, wäre es mit dem Frieden am Esstisch schnell vorbeigewesen. Kinder müssten gezüchtigt werden. Sie bräuchten Disziplin und Strenge. Interessen könnten sie in ihrer Freizeit haben, aber doch nicht in der Schule! Wo kämen wir da hin? Die ersten Reformpädagog*innen (Montessori, Steiner, Fröbel) waren ihrer Zeit und vor allem, der Hirnforschung weit voraus und hatten mit starker Opposition zu kämpfen.
  • Die “zweite” Frauenbewegung: Huren, nicht eines Mannes würdig, und arbeiten wollen sie auch? Und das gleiche verdienen?
  • Die Homosexuellen-Bewegung: Kann man sich als heterosexuelles Paar heute vorstellen was es für einen Mann in den Fünfzigern hieß, auf Männer zu stehen? Damals bis heute werden, alle, die nicht hetero sind, ausgegrenzt, beschimpft, verunglimpft, eingesperrt, gefoltert und ermordet. Auch in den Fünfzigern lautete die Propaganda: Lesbierinnen können überall sein! Sie sind verludert, immergeil und versauen eure Kinder. Schwule vergewaltigen eure Söhne! Passt auf! Geglaubt? Ja, die allermeisten Menschen.
  • Menschen, die sich in Mexiko den Drogenkartellen widersetzen werden diffamiert, ihnen werden Verbrechen angedichtet, sie werden gefoltert, entführt, sie verschwinden. Ein medienwirksamer Fall, leider aber nur einer von vielen: Die 43 verschwundenen Student*innen in Chilpancingo, Mexiko, deren Verbrechen darin bestand, an einer liberalen Schule zu denken und zu studieren.
  • Die “dritte” Frauenbewegung: Und jetzt beschwert ihr euch immernoch?
  • 9/11: Muslime sind Terroristen. Diese Propagandalüge wird bis heute kolportiert und ausgenutzt, obwohl viele Unwahrheiten über den damals begonnenen Krieg längst aufgedeckt wurden. Geglaubt?

Wehret den Anfängen! Lasst euch nicht spalten! Vertraut euren Herzen!

Du kannst jetzt sagen, das sind extreme Beispiele. So ist es bei uns nicht. Wirklich?
Frauen, Homosexuelle und Andersdenkende wurden auch bei uns systematisch unterdrückt und verunglimpft. Oppositionelle wurden vor nicht allzu langer Zeit hierzulande in Gefängnisse gesperrt und gefoltert. Die Hetze ist nur ein Anfang. Wehret den Anfängen! Lasst euch nicht spalten! Vertraut euren Herzen! Und bitte: wenn ihr jemanden auf der Straße, auf der Demo, im Lokal, in der Tram nicht gut findet, macht den Mund auf und nehmt euch euren Platz zurück.

Wir sind mittendrin in einer Propagandahetze. So traurig es ist und so schmerzlich, es zu erkennen. Wir müssen wieder selber denken und die Menschen um uns an den Herzen erkennen.

Io Iosopkowsky

Anmerkungen: Das Bild von der Jungmädelschaft habe ich als Screenshot aus der Reihe “Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt” von ARTE entnommen. Ich habe absichtlich keine kritischen Texte oder andere Quellen verlinkt, weil ich dir zutraue, selber zu recherchieren. Glaube mir, es gibt sie, die kritischen Stimmen.